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6. Februar 2020

Ein Parteichef auf Bewährung

Die FDP in Thüringen wird nun doch nicht den Ministerpräsidenten stellen. Parteichef Christian Lindner kämpft um seine Glaubwürdigkeit. Kann er sich im Amt halten?

Wann hat es das zuletzt gegeben? Demonstrationen vor der FDP-Zentrale, Rücktrittsforderungen gegen den Parteivorsitzenden, spontane Parteiaustritte, Aufstand in den Landesverbänden: Seit der FDP-Politiker Thomas Kemmerich am Mittwochnachmittag auch mit den Stimmen von AfD-Abgeordneten zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde, ist die liberale Welt aus den Fugen geraten. Und zwar innerhalb kürzester Zeit.

Mittendrin steckt Parteichef Christian Lindner. Er sieht sich mittlerweile ein paar äußerst unangenehmen Fragen gegenüber – zum Beispiel jener, ob er, wenn nicht bewusst, dann doch fahrlässig, die Partei in Aufruhr versetzt und die Demokratie in Deutschland beschädigt habe? Der öffentliche und offenbar auch der innerparteiliche Druck auf Lindner ist groß. So groß, dass er sich gezwungen sieht, auf einer Sondersitzung des Parteivorstandes am Freitag die Vertrauensfrage zu stellen.

Es ist nicht zu übersehen, dass die FDP ist in den vergangenen zwei Tagen in die tiefste Krise seit 2013 gestürzt ist. Damals war die Partei nach chaotischen Regierungsjahren in Berlin aus dem Bundestag geflogen. Vier Jahre verbrachte sie in der außerparlamentarischen Opposition. Und auch, wenn Kemmerich sein Ministerpräsidentenamt wieder zur Verfügung stellen will, die FDP-Fraktion im Thüringer Landtag inzwischen beschlossen hat, einen Antrag auf Auflösung des Landtags zu stellen, und es im Land alsbald Neuwahlen geben sollte: Der Schaden für die Partei bleibt.

Lindner räumt "Mitverantwortung" ein

Die ersten Folgen könnten bereits bei der Bürgerschaftswahl am 23. Februar in Hamburg sichtbar werden. Wenn die FDP dort an der Fünfprozenthürde scheitert und nicht mehr in die Bürgerschaft kommt, kann sie sich direkt bei den Thüringer Parteifreunden bedanken. Auch Neuwahlen in Thüringen werden eher dazu führen, dass die politischen Ränder dort weiter gestärkt werden, Linke und AfD weiter Zulauf erhalten. Nichts spricht hingegen dafür, dass die Wählerinnen und Wähler in Thüringen die politische Mitte wiederentdecken werden. Und nichts spricht dafür, dass die Mehrheitsverhältnisse im Erfurter Landtag nach einer erneuten Wahl grundlegend andere sein werden. Die Thüringer FDP allerdings wird es schwer haben, wieder in den Landtag einzuziehen. Sie hat ihre Glaubwürdigkeit verspielt.

Auch Christian Lindner wird einige Mühe haben, seine politische Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Eine "Mitverantwortung" der FDP für die eingetretene Situation räumte der Parteichef am Donnerstag in Erfurt zwar ein, aber einen Fehler mochte er in der Kandidatur Kemmerichs auch rückblickend nicht erkennen. Dieser habe sich "aus lauteren Motiven" um das Amt des Ministerpräsidenten beworben, als "Statement der Mitte" gegen zwei Kandidaten von den politischen Rändern – auch wenn das Gegenteil dessen eingetreten sei, was die FDP zum Ziel gehabt habe. Die politische Mitte sei nun geschwächt. Schuld sei die AfD, der sei es gelungen, "mit einem perfiden Trick die Demokratie zu beschädigen", indem sie im dritten Wahlgang nicht ihren eigenen

Thüringen - "Demokraten brauchen demokratische Mehrheiten" Nach seiner umstrittenen Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten will Thomas Kemmerich zurücktreten. Die FDP wolle den Landtag auflösen, um Neuwahlen zu ermöglichen. © Foto: GettyImages

Die unangenehmen Fragen bleiben. Wie viel Schuld trägt die FDP? Wie viel Verantwortung trägt Christian Lindner? Warum hat er die Trickserei der AfD im Vorfeld nicht als solche erkannt? Wie konnte es dazu kommen, dass Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde? Gab es einen heimlichen oder zumindest unausgesprochenen Deal zwischen FDP, CDU und AfD? Oder war die Wahl von Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten "von langer Hand vorbereitet", wie der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am Donnerstag mutmaßte? Gab Parteichef Christian Lindner vielleicht doch vorab sein grünes Licht dafür, dass der FDP-Mann auch mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten ins Amt gewählt werden könnte? Das zumindest berichtet das Internetportal Business Insider und beruft sich dabei auf Quellen im engsten Führungskreis der Liberalen. Von einem Unfall zumindest sprach am Tag danach niemand mehr.

"Es gibt keine Zusammenarbeit der FDP mit der AfD."

Donnerstagfrüh eilte Christian Lindner nach Erfurt, um in Gesprächen mit Kemmerich und seinen Thüringer Parteifreunden seine Autorität als Parteichef wiederherzustellen und Schadensbegrenzung zu betreiben. Morgens war Kemmerich noch wild entschlossen, im Amt zu bleiben und eine Regierung zu bilden. "Ich habe mich der Wahl gestellt, wohl wissend, was passieren kann", sagte er trotzig im ARD-Morgenmagazin. Er bestätigte auch, dass er die Entscheidung, für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren und auf die Stimmen der AfD-Abgeordneten zu schielen, nicht ganz allein gefällt habe. Er habe in den vergangenen Tagen "mit Christian Lindner immer in Kontakt gestanden". Indirekt bestätigte Kemmerich damit die Recherchen von Business Insider. Das Dementi der FDP dazu klang auf Twitter eher ausweichend: "Zu keinem Zeitpunkt hat der FDP-Parteivorsitzende, @c_lindner, intern oder öffentlich eine wie auch immer geartete Kooperation mit der AfD gebilligt."

Donnerstagmittag war dann klar: Kemmerich wird nicht nur als Tabubrecher, sondern auch als der Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die deutsche Geschichte eingehen. Dem gewaltigen politischen Druck hielt er nicht stand. Von einer Auslandsreise in Südafrika hatte sich sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Wort gemeldet und die Ereignisse in Thüringen "unverzeihlich" genannt. In der Erfurter Staatskanzlei verkündete Kemmerich dann die Kehrtwende. Seinen Rücktritt nannte er "unumgänglich". Es gehe darum, den Makel der Unterstützung durch die AfD vom Amt des Ministerpräsidenten zu nehmen, "Demokraten brauchen demokratische Mehrheiten". Doch das hätte der FDP-Politiker eigentlich auch schon vor dem denkwürdigen Mittwoch wissen können, ja, wissen müssen.

Christian Lindner mied den gemeinsamen Auftritt mit Thomas Kemmerich in Erfurt. Er trat erst eine Stunde später allein vor die Presse und klang dabei deutlich entschiedener als noch am Tag zuvor. Der gerade erst gewählte Ministerpräsident habe, "die einzig richtige, die einzig mögliche Entscheidung getroffen", sagte er nun, Kemmerich habe sich damit "aus der Abhängigkeit der AfD befreit", eine solche Abhängigkeit dürfe es nicht geben, deshalb sei es "folgerichtig, das Amt zurückzugeben".

Der Aufruhr ist nicht vorbei

Dann versuchte Lindner noch einmal, sich und seine Partei freizusprechen. Es sei am Mittwoch "eine politische Konstellation entstanden, die nicht beabsichtigt war", so der FDP-Chef. Dass Kemmerich die politische Konstellation offenbar anderes eingeschätzt hatte, will Lindner nicht mitbekommen haben. Im Vorfeld der Abstimmung im Thüringer Landtag sei ihm in den Gesprächen mit seinen Thüringer Parteifreunden "zu keinem Zeitpunkt" der Eindruck vermittelt worden, es habe für die Kandidatur von Kemmerich ernst zu nehmende Erfolgsaussicht gegeben. "Wir stehen für eine Politik der Mitte, wir stehen dafür, dass es eine Brandmauer gegenüber der AfD gibt", versicherte Lindner, und er fügte hinzu: "Die Brandmauer steht", es bleibe dabei, "es gibt keine Zusammenarbeit der FDP mit der AfD".

Immerhin: 24 Stunden lang gab es in dieser Woche Zweifel an dieser Versicherung. Ebenso lang gab es auch Zweifel an Lindner. Der Schaden für die FDP ist beträchtlich, der innerparteiliche Aufruhr längst noch nicht beendet. Es wird dauern, bis die Glaubwürdigkeit der FDP wiederhergestellt ist, und dafür trägt Lindner eine Mitverantwortung. Er hätte seine Thüringer Parteifreunde schon im Vorfeld der Ministerpräsidentenwahl am Mittwoch stoppen, spätestens am Mittwoch deutliche Worte finden müssen. Offensichtlich fehlte ihm dafür das politische Gespür.

Seit 2013 ist Lindner Parteivorsitzender. 2017 hat er die FDP zurück in den Bundestag geführt und stand seitdem unangefochten an ihrer Spitze. Seinen Ausstieg aus den Jamaika-Sondierungen trug die Partei geschlossen mit, auch wenn nicht jeder in der Parteiführung die Entscheidung für richtig gehalten hat. Jetzt muss der Parteivorsitzende erstmals um sein Amt kämpfen. Am Freitag dürfte es ihm zunächst gelingen, die Partei hinter sich zu scharen. Nichts deutet darauf hin, dass er die Vertrauensabstimmung im Parteivorstand verlieren könnte.

Aber wenn sich die FDP nicht schnell erholt, und wenn sich viele Wählerinnen und Wähler nach den Ereignissen in Thüringen erst einmal von ihr abwenden, dann könnte es mit der innerparteilichen Geschlossenheit schnell wieder vorbei sein. Deshalb ist Christian Lindner seit Mittwoch ein FDP-Vorsitzender auf Bewährung.

(zuerst erschienen am 6. Februar 2020 bei Zeit Online)