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23. Februar 2020

Absturz in der Großstadt

Nicht nur in Ostdeutschland zeigt sich die Krise der Union. Auch in den Großstädten fällt sie in der Wählergunst zurück. Sind die Grünen längst die wahren Konservativen?

Geht es um die Krise der CDU, so blickt alle Welt in diesen Tagen auf Thüringen und auf eine Partei, die in Ostdeutschland von der AfD herausgefordert wird. In der CDU ziehen viele die Lehre daraus: Die Partei müsse sich wieder auf ihre traditionellen Werte besinnen, also konservativer werden.

In Hamburg lässt sich jedoch beobachten, dass es noch eine andere Krise gibt, die sich tief in die Unionsparteien hineingefressen hat. Sie macht keine Schlagzeilen, könnte langfristig aber weitreichendere Konsequenzen haben als die Ereignisse in Thüringen. Es ist die Krise der CDU und der CSU in den Großstädten.

 Geht es um die Krise der CDU, so blickt alle Welt in diesen Tagen auf Thüringen und auf eine Partei, die in Ostdeutschland von der AfD herausgefordert wird. In der CDU ziehen viele die Lehre daraus: Die Partei müsse sich wieder auf ihre traditionellen Werte besinnen, also konservativer werden.
In Hamburg lässt sich jedoch beobachten, dass es noch eine andere Krise gibt, die sich tief in die Unionsparteien hineingefressen hat. Sie macht keine Schlagzeilen, könnte langfristig aber weitreichendere Konsequenzen haben als die Ereignisse in Thüringen. Es ist die Krise der CDU und der CSU in den Großstädten.
Wenn am heutigen Sonntag in Hamburg eine neue Bürgerschaft gewählt wir, so steht schon jetzt fest: Die CDU wird bei dieser Wahl zu den Verlierern gehören. Um den Wahlsieg in Hamburg kämpfen nur noch SPD und Grüne. Die Christdemokraten hingegen werden voraussichtlich noch hinter das blamable Ergebnis von 2015 zurückfallen. Damals holten sie mit 15,9 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg.
Blick in den Rückspiegel
Drei Wochen später droht der CSU in München eine Niederlage. Dort dürfte der beliebte SPD-Amtsinhaber Dieter Reiter bei der Oberbürgermeisterwahl am 15. März wiedergewählt werden. Selbst um den Einzug in die Stichwahl muss die CSU bangen. Bei der parallel stattfindenden Stadtratswahl könnten die Grünen zum großen Wahlsieger werden. Die CSU ist ohne Chance. Angesichts der wachsenden Kluft zwischen Stadt und Land wirken CDU und CSU in den großen Städten ratlos, innerlich zerrissen, orientierungslos. Bei der Suche nach Halt blickt sie vor allem in den Rückspiegel. Zukunftsfähig ist das nicht.
Im vergangenen Herbst veröffentlichte der Historiker Andreas Rödder ein kleines Büchlein über den Konservatismus im 21. Jahrhundert. Rödder, CDU-Mitglied und in der Partei auch schon mal für höhere Aufgaben gehandelt, beklagt darin den Druck, unter dem die liberalen Demokratien des Westens stehen und sieht eine Ursache dafür in der "fatalen Sprachlosigkeit der Mitte". In den Großstädten lässt sich diese Sprachlosigkeit der Union mit Händen greifen.
Die Erkenntnis, dass sich die CDU mit den großstädtischen Wählern schwertut, ist nicht neu. Man könnte die Schwäche chronisch nennen. Immer wieder hieß es in den vergangenen beiden Jahrzehnten, die CDU habe "keine Metropolenkompetenz". Schon 2002 richtete die Partei eine Kommission ein, um das zu ändern. Doch seither gelang es weder, die CDU zu einer bürgerlichen Lifestyle-Partei zu machen, noch sich mit weichen Themen zu profilieren. Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust wies seine Partei kürzlich auf eine einfache Wahrheit hin: Mit einer Programmatik aus den Achtzigerjahren werde die CDU der Wirklichkeit in der Großstadt nicht mehr gerecht.
In den vergangenen Jahren hat sich die Krise in den Großstädten für die Unionsparteien immer weiter verschärft. In den zehn größten deutschen Städten stellen CDU und CSU nur in einer einzigen den Oberbürgermeister. Vor elf Jahren waren es noch sechs: Hamburg, Köln. Frankfurt am Main, Stuttgart Düsseldorf und Essen. Allein Essen ist geblieben oder vielmehr verloren und wiedergewonnen worden. Von den 25 größten deutschen Städten werden nur noch fünf von einem Oberbürgermeister der Union regiert. In den Nullerjahren waren es zeitweilig 14.
Laboratorien der Moderne
Vom Niedergang der SPD können CDU und CSU in den Großstädten nicht profitieren. Bei der Europawahl im Mai vergangenen Jahres erzielte die Union in den 25 größten deutschen Städten zusammen nur noch 20,5 Prozent, die SPD kam auf 16,1 Prozent. Strahlender Sieger waren mit 27,7 Prozent die Grünen. Mit großem Selbstbewusstsein drängen die Grünen in den Städten in die Mitte der Gesellschaft. Sie mobilisieren dort liberale bürgerliche Wähler, die SPD und Union nicht mehr erreichen. Wobei die Tendenz eindeutig ist: Je größer die Stadt, desto größer der Abstand zwischen Grünen und Union. In den fünf größten deutschen Städten kamen die Grünen sogar auf 30 Prozent, CDU und CSU zusammen auf lediglich 18,6 Prozent.
Alarm schlägt in der CDU angesichts dieser Entwicklung niemand. Aufgeregte innerparteiliche Debatten über die fehlende christdemokratische Großstadtkompetenz gibt es keine. Dabei leben in den 25 größten deutschen Städten zusammen genauso viele Wähler wie in den fünf neuen Ländern. Die Christdemokraten blicken auf den Osten. Sie blicken auf den ländlichen Raum. Die großen Städte hingegen und die bürgerlichen Wähler dort haben sie, so scheint es, abgeschrieben.
"Die CDU hat die Anschlussfähigkeit an die großstädtischen Diskurse, an die sozial-ökologische Modernisierung verloren", klagt der Frankfurter CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Zimmer, und nennt diese Entwicklung für die CDU "hochgefährlich". Die großen Städte seien "Laboratorien der Moderne", so Zimmer, "gesellschaftliche Trends dort setzen sich auch im Land insgesamt durch". Das heißt: Verliert die Union in den Großstädten den Kontakt zu den Wählern, verliert sie ihn anschließend auch im Rest der Republik.
Roth wirkte progressiv, aber nicht nachhaltig
Zehn Jahre, von 1999 bis 2009, arbeitete der Politikwissenschaftler Zimmer im Team von Petra Roth. Die Christdemokratin war von 1995 bis 2012 Oberbürgermeisterin in Frankfurt am Main und stützte sich im Stadtparlament der traditionell linken Mainmetropole auf eine schwarz-grüne Mehrheit. Roth war das, was Zimmer eine "progressive Konservative" nennt. Sie setzte auf Frauenförderung, unterstützte den Bau von Moscheen, profilierte sich als feinfühlige Kulturpolitikerin. Mit einer liberalen Drogenpolitik legte sich Roth in den Neunzigerjahren mit der schwarz-gelben Bundesregierung an. Als eine der ersten deutschen Großstädte richtete Frankfurt unter Roth 2002 dann sogar eine Suchtambulanz für Schwerstdrogenabhängige ein, in der ärztlich kontrolliert Heroin gegeben wurde. Als das Frankfurter Bürgertum in den Hochburgen der Partei protestierte, hielt Roth mutig dagegen. 2007 wurde sie mit 60,5 Prozent im ersten Wahlgang in ihre dritte Amtszeit gewählt.
Doch nachhaltig war die christdemokratische Großstadtpolitik in Frankfurt nicht, genauso wenig wie in Hamburg, wo die CDU von 2008 bis 2010 zusammen mit den Grünen regierte. Für Liberalität und progressiven Konservatismus stand in Hamburg allein Ole von Beust. Nach seinem Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters fiel seine Partei in traditionelle Politikmuster zurück.
Die CDU müsse den Wandel in den Großstädten "aktiv gestalten", sie müsse "proaktiv Konzepte für die Großstadt entwickeln", fordert Matthias Zimmer und klingt dabei ziemlich resigniert. Denn tatsächlich läuft die Partei dem rasanten gesellschaftlichen Wandel in der Großstadt hinterher.
Veggieburger statt Nackensteak
Das Lebensgefühl in diesen Laboratorien der Moderne heißt Veggieburger statt Nackensteak, Carsharing statt SUV, Mietendeckel statt Marktwirtschaft, Klimaschutz statt Kohlestrom. Die CDU tut sich schwer damit. Im Zweifelsfall verteidigt sie doch die Autofahrer und setzt auf eine repressive Drogenpolitik. Oder CDU-Politiker spotten über die grüne "Latte-macchiato-Bourgeoisie". In Berlin protestiert der CDU-Landesverband lautstark gegen den rot-rot-grünen Mietendeckel. Die CDU setzt dort weiter darauf, dass der Markt es schon regelt. Nur haben die Wähler und Wählerinnen in der Hauptstadt die Erfahrung gemacht, dass der Wohnungsmarkt seit Jahren völlig außer Kontrolle geraten ist. Nur mit Wohnungsneubau ist das Problem nicht in den Griff zu kriegen. In Umfragen steht die Hauptstadt-CDU bei 16 Prozent.
Bürgerschreck? Das war einmal
Wie sehr sich das Lebensgefühl der Wähler in den großen Städten in den vergangenen Jahren verändert hat, wie grundlegend sich Werte dort gewandelt haben, hat im vergangenen Herbst der Oberbürgermeisterwahlkampf in Hannover gezeigt. Vergeblich hatte die CDU darauf gehofft, nach 75 Jahren erstmals das Rathaus der niedersächsischen Landeshauptstadt erobern zu können. Zuvor hatte ein Filz-Skandal die dort seit 1946 regierende SPD erschüttert. Stattdessen gewann der grüne Kandidat Belit Onay in der Stichwahl. Onay ist nicht nur das erste türkischstämmige Stadtoberhaupt einer deutschen Großstadt. Er versprach den Hannoveranern zudem eine autofreie Innenstadt und plakatierte dazu "Größere Freiheit. Weniger Auto."
Vor ein paar Jahren noch wäre ein solcher Slogan jedem Politiker, auch jedem Grünen, um die Ohren geflogen. Doch das Auto gilt vielen Großstadtbewohnern inzwischen nicht mehr als Statussymbol, sondern als Symbol der Einschränkung von Lebensqualität. Grüne Ideen von der Fahrradstraße bis zum Vorrang für das Elektroauto sind in Großstädten kein Minderheitenprogramm mehr, sondern mehrheitsfähig. Selbst die Angst vor grünem Chaos zieht nicht mehr: In 11 von 16 Bundesländern regieren die Grünen derzeit, in Baden-Württemberg stellen sie seit neun Jahren den Ministerpräsidenten und auch in vielen großen Städten trägt die Partei Verantwortung. Bürgerschreck? Das war einmal.
Zugleich jedoch repräsentieren die Grünen auch die gute alte Zeit. Worte wie "Heimat" oder "Patriotismus" kommen den Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck mittlerweile stotterfrei über die Lippen. Im selben Atemzug schwingen sie sich gegen die AfD zu konsequenten Verteidigern der liberalen Demokratie auf. Und wo Union und SPD wanken, weil sie einerseits in der Regierung mit der harten politischen Realität konfrontiert sind und anderseits viele Wähler an die AfD verlieren, können die Grünen so glaubwürdig standhaft bleiben. Kein Wunder, dass die AfD die "versifften" Grünen zum Feindbild erkoren hat. Von der Frontstellung profitieren beide Parteien.
Die neuen Konservativen
Sind die Grünen also mittlerweile die wahren Konservativen? Zumindest in der alten Bundesrepublik und dort vor allem in den großen Städten?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick in die Geschichte. Lange hielt sich die Sehnsucht nach dem Konservativen in der deutschen Politik in engen Grenzen. Bis in die Siebzigerjahre hinein scheute die CDU den Begriff, weil er als historisch belastet galt. Erstmals floss er 1978 in die Programmatik der CDU ein. Doch erst in der Ära Merkel wurde der Konservatismus zum Kampfbegriff für innerparteiliche Auseinandersetzungen und Machtkämpfe.
Die CSU diskutierte 1968 auf einem Parteitag in München sogar recht kontrovers die Frage, ob sie das Adjektiv "konservativ" überhaupt in ihr Grundsatzprogramm aufnehmen solle. Eine Mehrheit der Delegierten war dagegen. Schließlich erfand Parteichef Strauß auf dem Parteitag eine Formel, auf die die CSU bis heute stolz ist: "Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren." Das Land wurde weiter grundlegend transformiert, nur auf der Kirchweih spielte weiter die Blasmusik. Der Strauß-Schüler Edmund Stoiber brachte diese CSU-Politik später auf die Formel: "Laptop und Lederhose".
Gelingt es den Grünen in den Großstädten mittlerweile also besser als CDU und CSU, Kontinuität und Wandel miteinander zu verbinden? Frei nach dem grün-konservativen Motto "Windrad, Drugs & Rock 'n' Roll"? Gelingt es ihnen, anstelle der Union die von Rödder beklagte "Sprachlosigkeit der Mitte" zu überwinden? Es macht derzeit den Eindruck. In der Opposition gegen die große Koalition fällt dies allerdings auch leicht. Zum Schwur in den Großstädten kommt es erst, wenn die Grünen auch im Bund mitregieren.

(zuerst erschienen am 23.02.2020 bei Zeit Online)